Ende Oktober 2022 feierte das Talentscouting der Westfälischen Hochschule sein zehnjähriges Bestehen. Moderatorin und WH-Studierende Elena Fortmann, Marcus Kottmann, Leitung des NRW-Zentrums für Talentförderung der WH, Yazgı Yılmaz, TalentKolleg Ruhr Gelsenkirchen, Annette Berg, Direktorin der Stiftung SPI – Sozialpädagogisches Institut Berlin und WH-Präsident Prof. Dr. Bernd Kriegesmann (v.l.n.r.). Foto: NRW-Zentrum für Talentförderung
(YG) Vor zehn Jahren ging Talentscout-Pionier Suat Yilmaz als erster Talentscout einer deutschen Hochschule an Schulen im nördlichen Ruhrgebiet, um in Kooperation mit Lehrkräften und anderen Bildungsakteuren Talente zu entdecken und sie hinsichtlich ihrer Zukunftsplanung zu begleiten. Nach zwei durch das Land Nordrhein-Westfalen finanzierten Ausweitungen ist es mittlerweile zu einem dauerhaften Programm von insgesamt 17 Partnerhochschulen von Aachen bis nach Paderborn geworden. Aktuell begleiten 70 Talentscouts gut 20.000 Schülerinnen und Schüler an fast 400 weiterführenden Schulen im ganzen Land. Seit Start des Talentscoutings wurden über 35.000 Talente unterstützt.
Herr Kottmann, wie ist die Talentförderung an der WH entstanden?
MK: In den Einzugsgebieten der Westfälischen Hochschule kommen viele Jugendliche aus Familien ohne akademische Traditionen, aus einkommensschwachen Familien oder auch aus Elternhäusern, die über keine Kenntnisse des Bildungssystems verfügen und wo Netzwerke für die berufliche Orientierung fehlen. Aus diesen sozialen Herkunftsfaktoren resultieren dramatische Chancenungleichheiten für junge Menschen mit Blick auf die Gestaltung erfolgreicher Bildungsbiografien. Dies gilt in besonderer Weise auch für den Zugang zu Hochschulen. Die Talentförderung ist an der damaligen FH Gelsenkirchen ab 2009 im Prinzip aus der Frage entstanden: „Was können wir als Hochschule leisten, um leistungsstarken und engagierten jungen Menschen unabhängig von der sozialen Herkunft vergleichbare Chancen zu eröffnen?“ Wir haben erste Überlegungen im Strategiekonzept FH-INTEGRATIV gebündelt und das Konzept in den öffentlichen Diskurs gegeben. Als wir dafür 2010 in Berlin mit dem Deutschen Arbeitgeberpreis für Bildung ausgezeichnet wurden, haben sich Türen für die externe Finanzierung von Maßnahmen geöffnet, die wir dann insbesondere in enger Zusammenarbeit mit Schulen etabliert haben.
Wie war die Resonanz der Schulen auf die neuen Angebote?
MK: Zu Anfang bestanden bei vielen Schulen große Vorbehalte, weil man davon ausging, dass es sich einmal mehr um zeitlich befristete Aktivitäten handeln würde, die die Schulen aber eigentlich nicht mehr wollen, weil da selten ein Mehrwert mit verbunden ist. Wir haben aber einzelne Schulleitungen davon überzeugen können, dass wir als Hochschule langfristig agieren und nach Kooperationen auf Augenhöhe suchen, die wir nicht wieder nach kurzer Zeit auslaufen lassen müssen. Geholfen hat uns sicher auch der – damals wie noch heute – positive Blick auf engagierte und leistungsstarke Jugendliche, die oftmals als sozial schwach bezeichnet wurden, obwohl sie über herausragende soziale Kompetenzen verfügen. Diese „Talente“ – wie wir sagen – haben von Beginn an unsere Förderangebote genutzt und dies an ihren Schulen auch kommuniziert. Zudem konnten wir reale Leistungen über das von uns entwickelte Diagnosesystem „Leistung im Kontext“ klar argumentieren und damit auch einen erkennbaren Unterschied zu existierenden Förderangeboten argumentieren, die eher auf die Behebung von Schwachstellen und schwierigen Lebenslagen ausgerichtet sind. Wir sind mit der Talentförderung auf eine relativ große Gruppe von jungen Menschen ausgerichtet, bei denen klare Hinweise auf unausgeschöpfte Leistungspotenziale bestehen.
Wie hat sich dann das Talentscouting an den Schulen entwickelt?
MK: 2012 wurde Suat Yilmaz deutschlandweit als erster Talentscout einer Hochschule in den Schulen eingesetzt – vorrangig an Berufskollegs und Gesamtschulen, weil hier die Dichte an Bildungsaufsteigern natürlich besonders hoch war und ist. Die Beratung durch den Talentscout erfolgt individuell auf die Person zugeschnitten. Wir betrachten das Talentscouting auch als Biografiearbeit und stellen den Jugendlichen in den ersten Gesprächen Fragen, die ihnen vielleicht vorher noch nie jemand gestellt hat: Was sind deine Träume? Was sind deine Stärken? Welche Leistungen erbringst du gegebenenfalls auch außerhalb der Schule, die sich nicht über Schulnoten ausdrücken lassen? Weil wir uns an objektiv erkennbaren Leistungen orientieren, sprechen wir junge Leute bewusst als „Talente“ an. Wir beraten ergebnisoffen und agieren als soziale Patinnen und Paten unserer Talente, um vorhandene Potenziale zur Entfaltung zu bringen. Dabei ist mitunter zunächst viel Basisarbeit zu leisten. Vielen Talenten sind die Möglichkeiten in der Berufsausbildung oder im (dualen) Studium und mögliche Übergänge zwischen diesen Systemen überhaupt nicht bewusst. Andere müssen zunächst die Hemmschwelle überwinden, für sie fremde Personen selbstbewusst für Fragen aufzusuchen. Letztlich hat sich das Talentscouting dann rasant entwickelt, weil die Jugendlichen uns „die Bude eingerannt haben“. Heute haben wir in NRW viele Schulen, die gerne einen Talentscout hätten und sich dafür auf eine Warteliste setzen lassen.
Warum ist die WH die einzige Hochschule, die die Talentförderung in ihrer Grundordnung verankert hat?
MK: Diese Frage müssten das Präsidium und die Gremien der WH beantworten. Sicher hat die Arbeit mit Jugendlichen aus weniger privilegierten Verhältnissen an der WH aber eine besondere Bedeutung, weil diese Jugendlichen in den Einzugsgebieten der Hochschule die große Mehrheit darstellen. Zudem sehen wir, dass diese Gruppen über die Zeit nicht etwa kleiner werden, sondern ganz im Gegenteil erheblich an Bedeutung gewinnen. Allein in den letzten zehn Jahren hat der Anteil der unter 18-Jährigen aus den einkommensschwächsten Familien in Gelsenkirchen um etwa 10 Prozent zugenommen und liegt nun bei über 40 Prozent, Tendenz weiter steigend. Diese Entwicklung kann man in weiten Teilen des nördlichen Ruhrgebiets feststellen, dass hat gravierende Auswirkungen auf das Rekrutierungspotenzial in allen anspruchsvollen Ausbildungen, egal ob in der Berufsausbildung oder im Studium. Ein weiterer Aspekt mag sein, dass wir uns im Bereich der Arbeit mit Talenten inzwischen ein bundesweit einzigartiges Profil erarbeiten konnten. Da ist es vielleicht konsequent, dies auch entsprechend in der Grundordnung zu verankern.
Wie hat sich Corona auf die Talentförderung ausgewirkt?
MK: Wir konnten das Talentscouting jeweils kurze Zeit nach den Lockdowns wieder in Schule in Präsenz anbieten, weil sehr schnell ein eigenständiges Hygienekonzept erarbeitet worden ist. Aber grundsätzlich muss man sagen: mit Beginn der Corona-Pandemie sind die Jugendlichen, die die Talentförderung fokussiert, in teilweise brachialer Form von Entwicklungsmöglichkeiten abgeschnitten worden. Nicht nur schulische Inhalte und soziale Kontakte sind weggebrochen, die im System Schule realistisch betrachtet auch nicht mehr aufgeholt werden können. Auch viele Maßnahmen der Berufs- und Studienorientierung wurden ausgesetzt oder in für viele Talente unzugängliche Online-Verfahren umgewandelt, Praktika wurden gekappt, Eingewöhnungsmaßnahmen fielen faktisch weg. Die Nachwirkungen dieser Pandemie werden Chancen von jungen Menschen gerade aus weniger privilegierten Verhältnissen mindestens für ein Jahrzehnt massiv beeinträchtigen. Wir stellen bei den Jugendlichen eine zunehmende Verunsicherung fest, wie sich ihre Ausbildungschancen entwickeln werden. Dabei geht es weniger um die Aufnahme einer Ausbildung als vielmehr um die erfolgreiche Absolvierung, denn die Jugendlichen wissen ja sehr genau, was sie alles verpasst haben, was aber in Berufsausbildung und Studium trotzdem vorausgesetzt wird. Gleichzeitig sind Ausbildungen oder duale Studiengänge im öffentlichen Dienst gefragt wie nie, weil diese Alternativen Sicherheit in unsicheren Zeiten versprechen.
Haben Sie Beispiele für Talente, die Ihnen besonders in Erinnerung geblieben sind?
MK: Ein tolles Beispiel ist Ali Abdalla: Er hat durch das Talentscouting überhaupt erst entdeckt, dass er mit seinen Voraussetzungen studieren kann und hat sich für den Studiengang Wirtschaft in Gelsenkirchen entschieden. Er hatte allerdings Probleme einen Platz für sein Pflichtpraktikum zu finden, hier konnte die Talentförderung weiterhelfen. Heute arbeitet er in einer Führungsposition in dem Unternehmen, in dem er damals sein Praktikum absolviert und seine Abschlussarbeit geschrieben hat. Ich habe ihn auf unserer Jubiläumsveranstaltung getroffen und er hat sofort angeboten, seine Erfahrungen an die heutigen Schülerinnen und Schüler weiterzugeben. So werden frühere Talente zu Mentorinnen und Mentoren. Es ist wichtig, Vorbilder zu schaffen, an denen sich die Jugendlichen orientieren können – auch, um berufliche Alternativen aufzuzeigen.
Was sind die Pläne für die nächsten Jahre?
MK: Klar ist, wir werden weiter wachsen. NRW-Wissenschaftsministerin Ina Brandes hat verkündet, das Talentscouting weiter ausbauen zu wollen. Seit Oktober 2022 ist auch der erste Talentscout in Berlin-Neukölln im Einsatz. Darüber hinaus wurden in den vergangenen Jahren unsere TalentKollegs im Ruhrgebiet sukzessive ausgebaut, um engagierten Jugendlichen den Ausbau von Grundlagenkompetenzen in Deutsch, Englisch, Mathematik oder auch Physik zu ermöglichen, die sie für des Start in eine Berufsausbildung oder ein (duales) Studium brauchen. Gerade hat nach den Standorten in Herne, Gelsenkirchen und Hagen das vierte TalentKolleg Ruhr in Oberhausen eröffnet. Auch unser Schülerstipendium RuhrTalente wurde von der Landesregierung gerade auf Ostwestfalen-Lippe und die Region Aachen ausgeweitet und wird in den kommenden Jahren weiter als Programm NRWTalente ausgebaut. Nicht zuletzt finden unsere Weiterbildungen am NRW-Zentrum für Talentförderung inzwischen bei mehr und mehr Lehrkräften Resonanz, so dass wir auch hier mehr Kapazität aufbauen müssen. Und unsere Partnerschaft mit der neuen KiTa „Talentzwerge“ in Gelsenkirchen-Ückendorf ist zugegeben auch kein Zufall…